In unserer Kolumne schreibt Thorsten, Mr. Leather Europe 2015, über Erfahrungen und Begebenheiten der europäischen Leder- und Fetisch-Community. Außerhalb Europas gibt es nach wie vor Gewalt an Homosexuellen, derzeit aktuell: Tschetschenien. Unweit Europas und sogar innerhalb der Grenzen ist ein politischer Rechtsruck deutlich spürbar. Umso wichtiger ist ein Zusammenhalt innerhalb der queeren Community:
Ich bin kein Freund von Frames im Profilbild auf sozialen Medien. Kaum ein terroristischer Anschlag, ohne dass Minuten später die Profilbilder mit den entsprechenden Landesfarben Solidarität ausdrücken. Die Gesichter sind manchmal kaum noch zu erkennen vor lauter Solidaritätsbekundungen, Fahnen und Schriftzügen. Kurze Zeit später ein neuer Trend und ein Slogan wie „I’m Single“ ist wichtiger als schnelllebige und inhaltslose Trauer und Anteilnahme. Nachdem jedoch die Medien kürzlich ans Tageslicht brachten, was seit einigen Wochen homosexuellen Männern in Tschetschenien widerfährt, wurde unsere Community wachgerüttelt: Massenverhaftungen, Konzentrationslager, Folter und Mord. Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm. Ein Gefühl der Machtlosigkeit breitet sich aus und wenigstens der Frame für #chechnya100 im Profilbild ist besser, als zu schweigen. Schweigen tötet, das hat die Vergangenheit gelehrt!
Innerhalb kürzester Zeit zeigt sich ein beispielhafter Zusammenhalt unserer Community. Auch wenn es nur allzu oft Unstimmigkeiten, Uneinigkeiten und Reibereien gibt, zeigen wir uns gemeinsam solidarisch gegen diese grauenhaften Verbrechen. An Ostern in Berlin marschierten alle aus den europäischen Ländern anwesenden Mr. Leather/Fetish gemeinsam mit den Schwestern der Perpetuellen Indulgenz vom Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen zur russischen Botschaft, um auf die Schandtaten in Tschetschenien aufmerksam zu machen. In der darauf folgenden Woche folgten viele solcher Demonstrationen und Mahnwachen, zu Hunderten protestierten die Menschen auf den Straßen von Amsterdam, Brüssel, Dublin oder Wien, um nur einige zu nennen. Mit dabei die ortsansässigen Mister, Mitglieder der Lederclubs und Fetischisten, die Gesicht zeigen gegen das Verbrechen und ihre Solidarität mit den unterdrückten Homosexuellen in Tschetschenien und weltweit ausdrücken.
Denn derartige Vorfälle gibt es nicht nur im fernen Tschetschenien, sondern auch ganz in unserer Nähe, z.B. in Polen oder Ungarn. Ein junger Mann aus Weißrussland hat mir über die Verhältnisse in seiner Heimat erzählt. Er selbst ist nicht geoutet und sich bewusst, dass er durch ein Coming Out seine Familie verlieren würde. In seiner Stadt werden die Hunde von Homosexuellen vergiftet, ihre Häuser angezündet und sie selber drangsaliert, zusammengeschlagen oder gar getötet. Für die meisten bleibt als Ausweg entweder eine heterosexuelle Ehe und ein Leben voller Lügen oder die Flucht ins Ausland. Der Mann wird sogar fernab der Heimat von schlechtem Gewissen seiner Familie gegenüber, von Alpträumen und Depressionen geplagt. Ein Bekannter aus der Türkei sieht als Auslöser des schlechten Ansehens in seinem Land mitunter die Medienberichterstattung, die queere Lebensweise ausnahmslos negativ darstellt. Homosexualität ist in vielen Ländern illegal und wird mit Haft oder Prügelstrafe bestraft, in neun Ländern wird darauf noch die Todesstrafe verhängt.
Wir in Europa durchleben unterdessen eine Zeit, die an die legendären zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Berlin erinnert – lebenslustig, sexuell ausschweifend, zügellos und verrucht. Wir leben in einer ebenso glanzvollen und freizügigen Ära von Kunst und Mode; Schwule, Lesben und Transsexuelle sind sichtbar und haben ihre eigene Infrastruktur. Vergnügen mischte sich damals wie heute mit Politik – nachts wurde dort gefeiert, wo tagsüber politische Vereinigungen die Diskriminierung von Homosexuellen bekämpften. Was nach den Goldenen Zwanzigern passierte, ist hinlänglich bekannt. Der Rosa Winkel, den wir heute als Frame in Solidarität mit Tschetschenien auf unseren Profilbildern zeigen, diente in der Zeit des Nationalsozialismus zur Kennzeichnung von KZ-Häftlingen, die aufgrund ihrer Homosexualität dort eingesperrt wurden. Die derzeitige politische Situation in Europa ist Nährboden für Nationalismus. Hoffen wir nicht, dass wir über das Heute rückblickend einmal zugeben werden, wie offensichtlich und nah eine Wiederholung der Geschichte war. Genau aus diesem Grund müssen wir weiter für unsere Rechte und das bisher Erreichte kämpfen und unser Gesicht dafür zeigen. Wir dürfen uns später nicht nachsagen lassen, dass es an uns lag, dass die kommende Generation konservativ wurde. Vor allem müssen wir als Community zusammenhalten und Stärke sowie Einheit unter Beweis stellen…