Der Schöneberger Kiez

Gäbe es die berühmte Zeitmaschine, dann könnteman mal einen Zeitsprung in
das Jahr 2003 unternehmen – das Jahr, als der Verein Folsom Europe e.V. in Berlingegründet wurde. Der Vereinhat seinen Platz in Berlin-Schöneberg gefunden. Ein
queerer Kiez, der wohl wie kein anderer in der Welt für die Leder- und Fetischszene steht.

Rund um die Motzstr. und Fuggerstr. gibt es eine schier unendliche Vielfalt an Bars, Clubs, Cafés, Restaurants, Galerien und vor allem eben auch an Fetischshops. Und wer heute nun also mit seinem Koffer vom Wittenberg- oder Nollendorfplatz in die Hotels oder Apartments des Regenbogenkiezes läuft, denkt sicher, dass Berlin einfach schon immer was Besonderes war: Die Hauptstadt der Leder- und Fetischszene.  Aber war das wirklich schon immer so? 

Ein Rückblick auf die wilden 70er und 80er zeigt, dass die Hauptstädte der Lederszene damals eher San Francisco, Chicago, New York und London waren. Filmklassiker wie Cruising und Querelle lassen die Fantasien aufblühen rund um die Atmosphäre der Vor-AIDS-Zeit. Wild, hemmungslos, befreit und benebelt durch den Duft von Poppers.  

Das HIV-Virus änderte erst einmal alles. Die US-Szene drohte zu zerbrechen an der Ignoranz und Blockade der Reagan-Regierung. Schwule Männer starben zu Tausenden innerhalb weniger Jahre. Der Fokus wandelte sich schlagartig: Lederkerle und Drag Queens wurden quasi über Nacht zu den Vorreitern der AIDS-Hilfen und einer politischen und gesellschaftlichen Bewegung

 Die Lederszene, damals gab es kaum andere Fetische wie Gummi und Co., litt enorm unter der Angst, der Ausgrenzung und der Stigmatisierung.  Es dauerte sehr lange, bis sich die Szene Ende der 80er und Anfang der 90er davon einigermaßen erholte. Dies war auch die Zeit, als Amsterdam unter den Lederkerlen als die wichtigste Metropole in Europa galt. Namen wie die Argos Bar, die Cockring Disco sowie die Stores von Mister B und RoB waren wie eine Symphonie in den Ohren der Lederjünger. Der Leather Pride in einer Kirche der Innenstadt war legendär. 

Und Berlin? Nun, nach einem ersten Run auf die neue Hauptstadt war die Leder- und Fetischszene zwar auch am wachsen, aber es gab nicht dieses eine Epizentrum wie heute. Während Mister B und RoB ihre Filialen in Schöneberg öffneten, waren Blackstyle und Leathers traditionell im Prenzlauer Berg zuhause. Und auch viele Skin- und Sportswear-Bars siedelten sich rund um die Schönhauser Allee an. Zu der Zeit war der Ostteil der Stadt einfach viel hipper und angesagter – auch für die queere Szene. Dennoch entschieden sich die Gründer von FOLSOM EUROPE für Schöneberg als die Heimat ihres neuen Events. 

Der Kiez hatte eine unglaublich lange Tradition als Ausgehviertel für Andersdenkende und -liebende. 

Seit den Goldenen Zwanzigern schlug das nächtliche queere Herz rund um den Nollendorfplatz. Allerdings war das Schöneberg im Jahr 2003 doch etwas gemächlich, geradezu bürgerlich geworden. Man hatte sich mehr und mehr in einem bürgerlichen Leben eingerichtet. Und so war das erste Straßenfest auf der Fuggerstraße im Jahr 2004 auch für so manche ein Schock.  

Offensichtlich war ein wenig in Vergessenheit geraten, wie lebendig, wie extrovertiert und wie frivol der Kiez vor der Naziterrorzeit einmal gewesen war. Und schon nach wenigen Jahren veränderte sich der Kiez durch die Ansiedlung von FOLSOM EUROPE ganz gewaltig.  

Das AXEL HOTEL errichtete in Schöneberg seinen ersten Neubau, ehemalige Mitarbeiter der etablierten Shops und Bars machten sich selbständig und es entstanden legendäre Orte wie die Butcherei Lindinger, GEAR und Mutschmanns. Das New Action erlebte durch die Übernahme von zwei Hamburger Gastronomen eine unglaubliche Wiederbelebung und gilt heute als weltweit führend für die BLUF-Kerle und ihre Liebhaber. Mit Boxer kam ein zweiter Traditionsbetrieb aus Barcelona nach Berlin und auch das Leathers ist inzwischen nach Schöneberg gekommen.  

Kurz vor FOLSOM EUROPE 2022 kam dann RoB wieder nach Berlin zurück, nachdem der erste Store ja heute als R&Co. bekannt ist. Und das Prinzknecht, Connection und die Scheune sind eh langjährige und erfolgreiche Dauerbrenner im Kiez.  

Berlin ist heute die unangefochtene Hauptstadt der weltweiten Leder- und Fetischszene und deren Anhänger pilgern immer wieder gern zu FOLSOM EUROPE, zum legendären Ostertreffen EASTER BERLIN und auch zu den vielen monatlichen Events des Black Weekend. Wer mit einer Zeitmaschine heute ins Jahr 2003 zurückreisen könnte, wäre sicher überrascht, was sich in den letzten zwanzig Jahren in Schöneberg verändert hat.  

FOLSOM EUROPE ist und bleibt der Erfolgsantrieb des Kiezes und seiner neuzeitlichen Geschichte. 

Bild: Heinrich von Schimmer