Carmen

Box: Erzähle unseren Lesern doch zu Beginn etwas zu deiner Person: Wer bist du, wie alt bist du, wo lebst du, was machst du?

Carmen: Meine Wenigkeit heißt Carmen. Ich bin vor Kurzem 37 Jahre alt geworden, lebe im Saarland und bin gelernte Archäologin, aber auch angehende Autorin und Illustratorin. Insgesamt bin ich sehr kreativ unterwegs, was gerade in diesen Zeiten sehr hilfreich ist.

Box: Wenn es früher um Homosexualität ging, gab es oft die Frage: „Wann hast du das erste Mal gespürt, dass du so bist.“. Viele werden sich in diesem Zusammenhang sicher fragen, wann hast du empfunden, asexuell zu sein? War dir dies schon sehr früh bewusst oder war es ein Prozess?

Carmen: Sowohl als auch.

Hätte ich den Begriff dafür damals bereits gekannt, hätte ich es im Alter von 12 Jahren bereits gewusst. Denn das war die Zeit, in der ich bemerkte, dass die Gleichaltrigen in meinem Umfeld, wie ich es nannte, „am Rad drehten“ und sich für Jungs oder Mädels und Dinge wie Flaschendrehen, Alkohol, Rauchen, Discos und Boybands interessierten. Das war 1995, also Jahre, bevor in Deutschland überhaupt mal der Begriff im Zusammenhang mit einer sexuellen Orientierung fiel (das erste Mal war um 2004, glaube ich). 

Damals fragte ich mich, was ich denn nun sei: Homo-, hetero- oder bisexuell. Ich fand keine Antwort, da ich nicht wusste, woran andere das festmachten. Irgendwann dachte ich, dass man das daran merkt, mit wem man lieber abhängt und mit wem man besser zurecht kommt. Denn das entsprach und entspricht bis heute meiner Vorstellung einer Partnerschaft: Füreinander da sein, einander unterstützen und emotional nah sein, einen Menschen (oder auch mehr) zum Anlehnen, gerne auch zum Kuscheln, zu haben und mindestens einen Menschen, dem man absolut vertrauen kann, miteinander Interessen, Sorgen und Ängste teilen. Also eine intime Freundschaft oder, wie manche es nennen würden, eine queerplatonische Beziehung. 

Da ich nun mit Jungs besser zurechtkam als mit Mädels, was daran lag, dass ich mit ersteren sehr viele Interessen gemein hatte (Comics, Videospiele und Zeichentrickserien) und die Interessen und Themen von letzteren mit den meinen so gut wie keine Schnittstellen hatten (Flaschendrehen, Boybands, Jungs, Schminken, Stylen, ihr versteht), weshalb ich mir keine gemeinsame Zukunft mit einem Mädel vorstellen konnte, kam ich irgendwann zu dem Schluss, dass ich wohl eher nicht lesbisch sein könne – und damit wohl eher auch nicht bisexuell. Wobei ich mir diesbezüglich nie sicher war, denn ich kam ja doch mit ein paar Mädels, Nerds wie ich, prima zurecht und verbrachte gern Zeit mit ihnen, hing sogar regelrecht an ihnen. Aber ich wusste nicht, dass andere ihre Orientierung daran festmachten, mit wem sie sexuelle Erfahrungen teilen wollten. Woher auch? Es wurde schließlich nie erklärt, dass Menschen ein emotionales Bedürfnis nach Sex haben. Dass es sowas wie sexuelle Anziehung gibt. Was irgendwo nachvollziehbar ist, denn wenn davon ausgegangen wird, dass das eh alle kennen, braucht man es nicht mehr extra zu benennen. Da ich also Mädchen nicht mochte, folglich also weder lesbisch noch bisexuell sein konnte, hielt ich es also in Unkenntnis einer vierten Möglichkeit für logisch, dass ich quasi per default heterosexuell sein müsse.

Aber irgendwie nicht so richtig. Wäre ich gefragt worden, hätte ich nur geantwortet mit: „Kann sein. Keine Ahnung.“

Da ich keine Kinder wollte (aus verschiedenen Gründen), was für mich der einzige Grund für Sex war, wusste ich schon mit 13 oder 14, dass ich eh nie Sex haben würde. Folglich hielt ich es für überflüssig, mich über Verhütungsmittel näher zu informieren (das Wesentliche wusste ich eh schon aus der BRAVO). Denn wer keinen Sex haben wird, der braucht auch nicht zu verhüten, oder? Ich sage ja, hätte ich den Begriff damals bereits gekannt …

Für mich war das seltsame Balzverhalten, das ich immer wieder beobachten konnte, das Aufhübschen, dieser ganze oberflächliche Fokus aufs Äußere, die Rangordnungen, die Eifersüchteleien, das gegenseitige Ausstechen, das Gekicher, all dieses Herumgerede um den heißen Brei, wie Saufen und Rauchen. Ein Verhalten, das an den Tag gelegt wurde, weil man dazugehören wollte, weil alle es machten, weil es in Filmen so vorgemacht wurde. Und obwohl ich die BRAVO las und über Verhütungsmittel, Petting oder Selbstbefriedigung Bescheid wusste, glaubte ich nicht, dass das real wäre. Also, dass Leute das wirklich taten und das tun wollten. Außer zur Fortpflanzung. Deshalb und weil schon beim Rauchen und Saufen ersichtlich war, dass die das aus Gruppenzwang heraus taten, glaubte ich, dass die das alles nur spielten, um nicht negativ vor anderen aufzufallen. So wie ich. Und dass ich einfach nur zu unfähig war, um das hinzubekommen. Oder zu rational und zu erwachsen. Mein Fehler war, von mir selbst und von meinem Empfinden auszugehen und auf andere zu schließen.

Wirklich Gedanken habe ich mir darüber aber erst wieder gemacht, als die ersten Männer Interesse an einer Beziehung mit mir hatten. Das war mit 19, also um 2002 rum. Da ich ein Jahr zuvor mehrmals sexuell genötigt worden war und zum einen die Erfahrung gemacht hatte, dass, wenn eine Person was Sexuelles von mir will, nicht eher Ruhe gibt, bis sie es bekommt, und zum anderen, dass eh nicht interessiert, was ich will, wagte ich trotz Unbehagens nicht, dem Interesse mit einem Nein zu begegnen. Dabei wollte ich nie eine Liebesbeziehung. Irgendetwas in mir wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. Wahrscheinlich, weil mir unterschwellig klar war, dass in einer Liebesbeziehung Sex erwartet wird. Den ich nicht wollte. Weil Männer an mir interessiert waren und ich nicht an Frauen, glaubte ich also, heterosexuell zu sein, es aber irgendwie im Gegensatz zu anderen nicht richtig auf die Reihe zu bekommen, es falsch zu machen. Wie gesagt, ich glaubte ja, dass das Interesse an Sex sowie Lust am Sex nur gespielt seien. Wie in den Filmen ja auch.

Davon ausgehend, dass ich in einer Beziehung verpflichtet sei, Sex zu haben, und aus der Erfahrung heraus, dass eine Person, die Sex mit mir wollte, nicht eher Ruhe geben würde, bis sie ihn bekäme, habe ich mich oft dazu gezwungen, es einfach zu tun, manchmal auch, andere Positionen auszuprobieren, um herauszufinden, ob es mir dann vielleicht Spaß machen würde. 

Ich setzte mich da selbst sehr unter Druck, obwohl meine Partner es nicht bzw. nur indirekt durch unbedachte Äußerungen taten. Ich fühlte mich schuldig und unfähig, ihnen das zu geben, was sie wollten. Die Beziehungen endeten auch immer recht schnell, nach anderthalb Jahren, nach drei Jahren, nach einem halben Jahr und nach sieben Jahren. Keine dieser Beziehungen bin ich eingegangen, weil ich das wollte, sondern, weil ich nicht Nein sagen konnte und diejenigen nicht verletzen wollte. Ich konnte sie gut leiden, zumal wir gemeinsame Interessen hatten, aber in den Beziehungen habe ich mich selten wirklich wohlgefühlt. In jeder meiner Beziehungen habe ich mich vor mir selbst geekelt und hab meinen Partnern angeboten, sich den Sex woanders zu holen. In der dritten Beziehung war ich mit jemandem zusammen, der Nähe nur über Sex ausgedrückt hat, aber der nicht mit mir gekuschelt hat, mich nicht gestreichelt hat, nicht geküsst. Ich hatte also keine andere Form körperlicher Nähe zum Ausgleich. Ich verlor fünfzehn Kilo Gewicht in diesem halben Jahr, in dem ich mit ihm zusammen war. Zu meinem Gatten, mit dem ich trotz Trennung weiterhin verheiratet bin, habe ich ein gutes, partnerschaftliches Verhältnis, und wir ziehen gemeinsam unser Kind groß.

Das Stillen war es letztlich, was mich daran erinnert hat, dass der Körper auch ohne Lust mit Erregung reagieren kann. Es hat aber fast drei Jahre (bis 2016) und den Kontakt mit dem Begriff „Asexualität“ sowie daraufhin den Austausch mit einem Teil der asexuellen Community gebraucht, bis mir klar wurde, dass ich generell nie Lust hatte, sondern immer nur dem Irrglauben erlegen bin, dass eine Körperreaktion Lust bedeute. Was bei vielen zutreffen mag, aber nicht immer und nicht bei allen.

Zwar war mir ziemlich schnell nach dem Finden des Begriffs klar, dass er auf mich zutraf, aber es dauerte trotzdem noch knapp drei Jahre, bis ich diesen Teil meiner Identität endgültig für mich angenommen hatte, und bis ich mich nicht mehr durch irgendwelche Kommentare verunsichern ließ und meine Sexualität nicht mehr hinterfragte.

Langer Text, aber es ist eben manchmal ein langer und von Selbstzweifeln und Selbsthass gezeichneter Weg. Mit Sackgassen und Umwegen.

Box: Was heißt es für dich Asexuell zu sein, und wie lebst du das? Wie hat sich das für dich entwickelt?

Carmen: Asexuell sein bedeutet für mich, nicht an sexueller Interaktion interessiert zu sein und diese nicht anzustreben. Es bedeutet für mich, sich zu keiner Person sexuell hingezogen zu fühlen bzw. das Gefühl sexueller Anziehung nicht zu empfinden.

Wie ich das lebe? Schwierige Frage. Wie lebt man seine Sexualität? Beispielsweise gehe ich nicht alleine aus, sondern nur, um mich mit Menschen zu treffen, die ich mag. Ich sehe keinen Grund darin, alleine auszugehen. Ich meide Situationen, Orte, Kontexte, in denen sexuelle Interaktion und Kommunikation wahrscheinlich ist. So wird man mich niemals in Discos oder sonstigen Tanzveranstaltungen sehen, ebenso wenig in Dating-Portalen. Ich trage auch keine Oberteile mit Ausschnitt oder figurbetonte Kleidung, weil sie a) unbequem sind und ich mich b) unwohl darin fühle, weil ständig befürchten würde, bestimmte Blicke zu ernten bzw. für ein an Sex interessiertes Wesen gehalten zu werden. Ich beteilige mich nicht an Unterhaltungen über Sex, solange es nicht um Sex als Konzept geht. Denn zum einen fühle ich mich von solchen Unterhaltungen schnell gelangweilt und genervt und zum anderen könnte ich eh nur eine unemotionale und eher technische Sicht darauf beisteuern – was schon mehr als einmal dazu geführt hat, dass ich solche Unterhaltungen crashte. Was auch wieder auf seine Art amüsant ist. Ich reagiere allergisch auf Komplimente bezüglich meines Äußeren, weil die einfach immer unpassend sind und sich einfach falsch anfühlen. Wenn ich das Gefühl habe, dass jemand mit mir flirtet, gehe ich zu dieser Person auf Distanz.

Im Laufe meines Lebens habe ich gelernt, mein Desinteresse an sexueller Interaktion und Kommunikation oder meine Genervtheit von diesem Thema deutlicher zu kommunizieren. Dabei hat mir der Begriff unheimlich geholfen. Allein, einen Begriff zu haben, der nichts Pathologisches beschreibt, stärkt das Selbstwertgefühl schon ungemein, was dann auch dabei hilft, besser für sich einzustehen und das eigene Empfinden auch in der Kommunikation mit anderen ernst zu nehmen.

Box: Empfindest du dich als „verschieden“ von anderen, sexuellen Menschen?

Teils, teils. Was die Wahrnehmung von Äußerlichkeiten, Berührungen, Intentionen und sozialen Interaktionen angeht, durchaus. Ebenso erkenne ich Unterschiede im Verhalten, die aus der unterschiedlichen Wahrnehmung herrühren dürften. Aber im Großen und Ganzen haben wir alle meiner Ansicht nach mehr gemeinsam als uns unterscheidet.

Box: Ist Asexualität ein Leben ganz ohne Lust? Ohne Selbstbefriedigung? Wie stehen Autosexualität und Asexualität für dich zueinander?

Sie stehen für mich nicht im Widerspruch zueinander, da Asexualität ja darüber definiert ist, dass man sich nicht sexuell zu anderen hingezogen fühlt bzw. kein Verlangen nach sexueller Interaktion empfindet. Und Masturbation ist zwar ein sexuelles Verhalten, aber keine Interaktion, da keine andere Person daran beteiligt ist.

Ich selbst nutze es zwar gelegentlich als Einschlafhilfe und kann es durchaus auch als angenehm empfinden, aber ich habe ungefähr so viel Lust darauf wie aufs Geschirrspülen oder aufs Urinieren. In etwa so befriedigend ist es dann auch, nämlich gar nicht. Ich hake das hinterher als erledigt ab.

Dennoch bin ich durchaus emotional leidenschaftlich, nur eben nicht auf der sexuellen Ebene. Eine innige Umarmung mit einem Menschen, dem ich mich nahe fühle, lässt mich schweben und schier bersten vor Glück. Besonders intensiv, intim und nah fühlt es sich bei direktem Hautkontakt an. Das ist ungleich wärmer und intimer. Das hat für mich etwas sehr Sinnliches, aber eben nichts Sexuelles. Inniger Hautkontakt mit meinem Kind ist ja auch nicht sexuell, sondern sinnlich, intim, wärmend, tröstend, nährend und wohltuend. Bei einer Person, die mir auf Augenhöhe begegnen kann, ist es dasselbe, nur ungleich intensiver und näher.

Box: Wie passen sexuelle Orientierungen und Identitäten zur Asexualität? Nimmt man sich, wenn man sich als Asexuell empfindet, weiterhin dezidiert als Hetero(a)sexuell, Homo(a)sexuell oder Queer usw. wahr?

Carmen: Ich persönlich nehme mich eher als queer wahr und sehe mich nicht als hetero-, homo- oder biromantisch asexuell, sondern als asexuell. Es fühlt sich irgendwie nicht richtig an. Da kann ich aber nur für mich sprechen. Andere Asexuelle sehen das anders und definieren sich beispielsweise stärker über ihre romantische Orientierung.

Box: Lebst du in einer Beziehung oder strebst du eine Beziehung an? Und was wären die Voraussetzungen für eine Beziehung? Sind/Müssten die Partner ebenfalls asexuell sein?

Carmen: Ich bin verheiratet und führe zusätzlich eine innige Kuschel- und Knutschfreundschaft mit einem sehr lieben Menschen. Man könnte es auch eine queerplatonische Beziehung nennen, aber wir haben keinen Begriff dafür.

Für mich sind Freundschaften das Non Plus Ultra und das, was ich anstrebe. Für mich ist körperliche Zuneigung auch nichts, das exklusiv einer Paarbeziehung vorbehalten ist, sondern auch Teil einer intimen Freundschaft sein kann. Wirklich entspannt kuscheln und intime Nähe genießen kann ich allerdings nur mit Menschen, bei denen ich weiß, dass sie kein sexuelles Interesse an mir haben.

Mit einigen Aspekten von Paarbeziehungen kann ich nicht besonders viel anfangen. Exklusivität ist ein Konzept, das ich nicht nachvollziehen kann; wieso sollte eine Person bei mir oberste Priorität vor allen anderen haben (oder umgekehrt ich)? Sex fällt als Bestandteil einer Beziehung aus. Zwar erziehen der Gatte und ich das Kind gemeinsam, ziehen auch sonst häufig am selben Strang und halten uns gegenseitig den Rücken frei, aber sowohl er als auch ich planen unser Leben individuell. So ist es auch bei meinem Kuschelfreund und mir. Wir wohnen nicht zusammen, haben aber gemeinsame Projekte und genießen jede Minute, die wir gemeinsam verbringen. Wir sind befreundet. Nicht verpartnert.

Box: Tatsächlich scheint es so, dass Asexuell „unsichtbar“ ist. Wie ist das in deinem Umfeld von Familie und Freunden? Wie offen kannst du damit umgehen und wie war die Reaktion, wenn du darüber gesprochen hast?

Carmen: Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Von Ungläubigkeit über Irritation bis hin zu Akzeptanz war alles dabei. Am Schlimmsten war die Reaktion eines ehemaligen Kumpels, der mir schlicht nicht glaubte und hartnäckig versucht hat, mir das „Hirngespinst“ auszureden. Schweren Herzens habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen, weil dieser mir letztlich nur geschadet hat. Die meisten haben Fragen gestellt, weil sie den Begriff noch nie gehört hatten. Aber in der Regel geschah das aus ehrlichem Interesse und Neugierde. Sehr amüsant waren die Reaktionen einer guten Freundin und des Gatten. Sie meinte nur: „Das hab ich mir irgendwie schon gedacht und das macht manche Situationen rückblickend betrachtet noch komischer.“ Des Gatten Reaktion war schlicht: „Das erklärt einiges.“ Ich denke, es war für ihn auch irgendwie eine Erleichterung, weil wir nun endlich erklären konnten, warum ich diesbezüglich so anders war.

Insgesamt gehe ich sehr offen, um nicht zu sagen, offensiv, damit um und oute mich bei jeder sich passenden Gelegenheit. Ein paar Leute in meinem Umfeld bedenken mittlerweile sogar gelegentlich meine Perspektive mit, wofür ich sehr dankbar bin.

Box: Allgemein, wie empfindest du die Wahrnehmung/Reaktion der Umwelt auf Asexualität und Asexuelle?

Glücklicherweise gibt es mittlerweile viele Menschen, für die Asexualität ebenso selbstverständlich ist wie die Existenz von Homo-, Hetero- und Bisexualität.

Allerdings lese ich immer wieder Kommentare, die Asexuellen dringend zu einer Therapie raten, deren Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität für gestört halten, ihnen schlimme Erfahrungen unterstellen, ihnen nicht glauben („Wenn du noch nicht alles ausprobiert hast, hast du einfach zu früh aufgegeben und kannst es nicht mit Sicherheit sagen.“ – „Wäre die wirklich asexuell, würde die sich nicht so aufdonnern.“ – „Du kannst nicht asexuell sein, du hattest schon Sex/du hast ja ein Kind.“), ihnen Sexualfeindlichkeit/Prüderie unterstellen, sie nach der Funktionstüchtigkeit ihrer Genitalien oder ihrem Hormonspiegel befragen, sie bemitleiden, weil sie das angeblich Schönste auf der Welt nicht kennen würden, sie als „Irrtum der Natur“ bezeichnen (wegen der Arterhaltung und so – das Argument hat innerhalb der LGBT-Community auch schon einen Bart, oder?).

Und ich lese immer wieder Kommentare, die ziemlich klar zeigen, dass viele unter Asexualität immer noch das Fehlen oder den Verlust der Libido verstehen. Dabei geht es um sexuelle Anziehung und das Verlangen nach sexueller Interaktion. Die Libido ist der reine Sexualtrieb, den man auch durch Selbstbefriedigung stillen kann.

Box: Betrachten wir allein schon die Werbung, leben wir offensichtlich in einer stark sexualisierten Gesellschaft. Wie empfindest du das? 

Carmen: Ich erlebe, dass Dinge sexualisiert werden, die für mich so gar nicht sexuell sind. Händchenhalten zum Beispiel oder Kuscheln mit lieben Menschen. Oder Stillen. Oder, wenn man einfach nur freundlich ist. Da wird von manchen „mehr“ reininterpretiert. Ebenso erlebe ich, dass das Verhalten von Kindern sexualisiert wird. Ein Junge, der häufig mit Mädchen spielt, wird beispielsweise gerne mal als „Hahn im Korb“, „Charmeur“ oder als einer bezeichnet, der den Mädchen „den Kopf verdrehe“. In der Werbung oder auch in Filmen fällt mir die Anreicherung mit sexuellen Inhalten auf, die in keinem Zusammenhang mit dem beworbenen Produkt oder mit der Handlung des Films stehen. Die also für mich keinerlei Sinn ergeben. Warum haben diese Pärchen immer so einen Schlafzimmerblick, wenn der Titel der CD doch „Kuschel-Rock“ lautet?

Box: Für andere sexuelle Orientierungen oder Identitäten ergibt sich oft ein Leidensdruck aus ihrer Situation heraus, empfindest du selbst oder allgemein in Bezug zur Asexualität solches auch?

Carmen: Der Leidensdruck ergab sich in Beziehungen aus dem Gefühl heraus, nicht zu genügen, wie ich bin, und aus dem schlechten Gewissen heraus, meine Partner schlecht zu behandeln und eine schlechte Partnerin zu sein. Also entstand der Leidensdruck aus einer falschen Erwartungshaltung heraus.

Ebenso litt ich darunter, nicht dazuzugehören und nicht mitreden zu können, irgendwie auch unter der falschen Annahme, prüde oder verklemmt zu sein, weil mir die Gespräche über Sex nicht behagten. Dabei hatte ich bloß Angst, selbst etwas sagen zu müssen und damit meine „falsche Sicht“ auf das Thema und meine „Ahnungslosigkeit“ zu offenbaren. Denn ich hatte die Erfahrung gemacht, mit meiner Sichtweise anzuecken und schräge Blicke oder Spott zu ernten. Man schämt sich dafür, fühlt sich naiv, dumm, gestört und unfähig „mitspielen“ zu können.

Sobald ich den Begriff hatte, hat sich das nach und nach geändert.

Box: Haben dir in dem Prozess, dir selbst bewusst zu werden, asexuelle Gruppen oder Webseiten helfen können?

Carmen: Mir hat der Austausch sowohl im AVEN-Forum (Asexual Visibility and Education Network) wie auch mit den Leuten vom Verein AktivistA sehr weitergeholfen, da ich dort zum ersten Mal auf Leute traf, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten und bezüglich Sexualität ähnlich tickten wie ich.

Box: Was würdest du jemanden raten, der gerade für sich entdeckt, dass er „Asexuell“ ist oder sich darüber klar werden möchte? Wo findet er am ehesten Unterstützung? Und gibt es etwas, was man auf alle Fälle vermeiden sollte?

Carmen: Im deutschsprachigen Raum gibt es unter anderem einen Ableger des englischen AVEN-Forums, AktivistA sowie Chatgruppen wie die Ameisenbären und weitere u.a. auf facebook, tumblr oder Discord. Auf Englisch gibt es deutlich mehr Anlaufstellen, beispielsweise den Blog „Asexual Agenda“. Es kommt meines Erachtens darauf an, welche Art von Hilfe man erwartet.

Die Foren sind recht hilfreich, wenn es beispielsweise um Beziehungsfragen geht, was unter anderem an dem im Vergleich zu Chatgruppen deutlich höheren Altersdurchschnitt liegt.

Wer sich über das Thema informieren möchte, kann das beispielsweise über AktivistA oder diverse Blogs wie „The Asexual Agenda“ (Englisch) tun.

Wer einfach nur andere Asexuelle kennenlernen möchte, ist vermutlich in den Chatgruppen oder den Kontaktanzeigen von AVEN gut aufgehoben.

Die einzelnen Gruppen haben ihre eigenen Gruppenregeln. Im deutschsprachigen AVEN-Forum ist beispielsweise explizit untersagt, den Inhalt privater Unterhaltungen öffentlich im Forum zu posten, verfassungsfeindliche Beiträge zu verfassen, andere zu beleidigen und andere zu belästigen. Eigentlich Selbstverständlichkeiten, finde ich. Fremdzuschreibungen sowie antisexuelle Äußerungen sind zwar nicht gerne gesehen, dennoch gibt es Mitglieder, die damit auffallen. Davon sollte man sich nicht verunsichern lassen.

Box: Viele Menschen, die noch in traditionellen Rollen oder sexuellen Identitäten verhaftet sind, fühlen sich durch die Vielfalt an sexuellen Orientierungen und Identitäten oft bedroht (und hier meine ich nicht die politischen Gegner von Vielfalt). Was würdest du ihnen antworten? Was würdest du dir von ihnen wünschen?

Carmen: Wünschen würde ich mir Offenheit, Aufgeschlossenheit und Akzeptanz.  Mehr Nebeneinander. Mehr gegenseitige Neugierde und ehrliches Interesse.

Ich habe zwar Antworten, die ich ihnen geben könnte. Aber ich fürchte, sie würden sie nicht annehmen, solange diese von außen kommen. Deshalb würde ich ihnen lieber ein paar Fragen stellen.

Was nehmen wir euch denn weg?

Was glaubt ihr an uns oder unseretwegen zu verlieren?

Woher rührt die Angst, die euch die Entwertung eurer eigenen Gruppe, eures eigenen Seins befürchten lässt, sobald andere Gruppen, andere Seinsformen die Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit einfordern?

Warum glaubt ihr an eine Entwertung eurer Seinsform statt an die Möglichkeit eines gleichwertigen Nebeneinanders unendlicher Möglichkeiten?

Die Antworten darauf tragen sie in sich, da bin ich sicher. Sie müssen diese Antworten allerdings selbst finden. Dabei kann selbstredend ein wenig subversiv nachgeholfen werden.