In unserer Kolumne schreibt Thorsten, Mr. Leather Europe 2015, über Erfahrungen und Begebenheiten der europäischen Leder- und Fetisch-Community. Von Juni bis August finden jährlich weltweit CSD-Paraden statt. Das Anderssein unserer bunten Community wird gefeiert und mehr Akzeptanz und Solidarität für die Vielfalt gefordert. Wie steht es aber tatsächlich um die Vielfalt in unseren Kreisen?
Ich komme gerade vom Kultur.Sommer.Semmering. zurück. Selbst das kulturelle Programm in diesem verschlafenen Höhenluftkurort, in dem vor 100 Jahren die High Society Österreichs verkehrte, steht im Zeichen der Vielfalt. Passend zu unseren Pride-Sommermonaten, in denen wir im Zeichen der Vielfalt auf die Straße gehen und europa- bzw. weltweit sichtbar für unsere Rechte demonstrieren. Die Forderung nach gelebter Vielfalt wird immer lauter, die Aktivitäten hierzu umfangreicher: Die Initiative „More Color, More Pride“ fordert zwei zusätzliche Farben in unserer Regenbogenflagge zur Anerkennung der People of Color in unserer Community. Wer von euch weiß, ob das Kürzel LGBTIQ* politisch korrekt ist? Oder war das doch ein + statt einem *? Habe ich ein Zeichen zu wenig oder gar einen Buchstaben zu viel geschrieben? Man verliert leicht den Überblick über all die Varianten für die Bezeichnung der sexuellen Orientierungen bzw. Geschlechteridentitäten, die von der heterosexuellen Norm abweichen. Es ist wichtig, unterschiedliche Lebensweisen zu akzeptieren und zu integrieren. Daher sind derlei Bestrebungen begrüßenswert. Der hypersensible Umgang damit, den wir derzeit erleben, treibt diese Diskussionen allerdings ins Absurde, wird vielfach schon nicht mehr ernst genommen und bewirkt das Gegenteil.
Immer auffälliger werden Postings oder Kommentare in sozialen Medien von so manchen Usern, die offensichtlich die „noch besseren Schwulen“ sein wollen und sich gegenseitig in ihrer Korrektheit übertrumpfen. Sie warten nur darauf, mit erhobenem Zeigefinger einen missverständlich formulierten Eintrag sofort aufzudecken und zu rügen. Man will ja öffentlich als Gutmensch wahrgenommen werden und stellt sich gerne mit eingebildeten höheren moralischen Ansichten über Andere. Entwickeln sich soziale Medien mehr und mehr zum Opium des Volkes?
Jeder Mensch ist anders, wundervoll individuell und das ist die Grundlage für unsere vielfältige Community. Können wir LGBTIQ*, die mehr Farben, mehr Gendering und mehr Gleichstellung fordern, wirklich mit dieser Individualität des Einzelnen umgehen? Hierzu ein Beispiel: Body Shaming. Zu klein, zu dick, zu feminin, zu asiatisch – die ewige Diskussion um Idealvorstellungen körperlicher Schönheit. Wie sieht eigentlich der ideale Ledermann aus? Wer sollte besser die Finger von Fetischklamotten lassen, weil sie ihm nicht stehen? Wir sind alle wundervoll individuell und jeder entspricht der Idealvorstellung eines Anderen. Trotzdem gibt es genügend überflüssige Kommentare und Anfeindungen, die die Vielfalt unserer Community im Kern verletzen.
Ähnlich verhält es sich mit unterschiedlichen Meinungen, sei es zu sexuellen Präferenzen, dem Weltgeschehen oder politischen Parteien und deren Programme. Viele CSDs haben sich dieses Jahr „Gegen Rechts“ auf die Fahne geschrieben. Darf man es aus Political Correctness wagen, dieses Motto in Frage zu stellen und auch den Linksextremismus kritisch zu beäugen? Die Meinung, unsere CSDs seien zu freizügig und provokativ und bieten zu wenig politischen Inhalt, stößt auf eine breite Ablehnung. Zu unserer Freiheit sollte es gehören, Themen prüfend zu hinterfragen, ohne dass dies als Schwäche abgetan wird. Unsere Gesellschaft wird immer polarisierter und eine andere Meinung zu äußern wird genau von den bereits erwähnten Moralaposteln stark kritisiert. Hierzu passend das Zitat von Johann Wolfgang von Goethe: „Handeln ist leicht, denken schwer; nach dem Gedachten handeln unbequem.“ Unterschiedliche Meinungen, Persönlichkeiten und Interessen ergeben in Summe die Vielfalt, für die wir uns im Zuge der queeren Emanzipationsbewegung einsetzen. Aber nur, wenn diese Vielfalt mehr als die Summe ihrer Bestandteile ist, nämlich eine gemeinsame Community.
Unsere Lebensentwürfe sind oft temporär, denn wir verändern uns im Laufe der Zeit aufgrund von Erfahrungen und unserem menschlichen Erleben und Verhalten. Wenn wir offen dafür sind, sind wir auch in der Lage, uns in andere hineinzudenken sowie deren Leidenschaften und Ansprüche zu verstehen. Wer intolerant ist und sein Fähnchen nur nach dem Wind richtet, wird Vielfalt weder begreifen noch akzeptieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass die bisher errungene Vielfalt von Geschlecht und Sexualität bei dem zurzeit in unserer Gesellschaft stattfindenden Umbruch vorübergehend sein und schnell zu Bruch gehen kann.
Unsere Community muss daher in der Lage sein, sich den ständig neuen Gegebenheiten anzupassen, Gelegenheiten zu prüfen, ihre Struktur immer wieder zu verändern und dabei im Kern trotzdem stabil zu bleiben. Nur im Sinne von Solidarität und Zusammenhalt sind wir vielfältig und nicht angreifbar…