Thorstens Buchempfehlung: Der Puppenjunge

Der Puppenjunge

Die Geschichte einer namenlosen Liebe aus der Friedrichstraße

von John Henry Mackay

Schwuler Klassiker, Neuauflage 2022 Männerschwarm Verlag

ISBN: 978-3-86300-317-3, 368 Seiten

 

Der Puppenjunge spielt im Berlin der „Goldenen Zwanziger Jahre“ und schildert das Leben Günthers, der mit fünfzehn aus seinem Dorf ausreißt und sich in Berlin als Strichjunge durchschlägt. Gleichzeitig mit ihm ist auch der Buchhändler Hermann Graff nach Berlin gekommen, um dort zu arbeiten; er verliebt sich in Günther. Die Authentizität des Buches kommt nicht von ungefähr.

Der deutsche Autor John Henry Mack (1864-1933) besuchte 1924 alle schwulen Kneipen Berlins. Im Hebst saß er abends im Hinterzimmer des Marienkasinos mit dem Rücken gegen die Wand an einem langen Tisch, um ihn zwei, drei, vier und mehr Jungen, ließ für sie Wurststullen, Zigaretten und Bier kommen und ließ sie erzählen, erzählen und immer wieder erzählen. So entstand ein bemerkenswertes Buch als Zeitzeuge der schwulen Szene Berlins der 1920er Jahre. Günther flieht in die Großstadt, wo er sich Hunderten anderer Jugendlicher anschließt, dessen einzige Überlebensmöglichkeit darin bestand, durch die in diesem Buch dargestellten Straßen zu gehen – Friedrichstraße, Unter der Linden und vor allem Die Passage – oder nächtliche Bars wie das Adonis zu besuchen, um junge und ältere Herren zu finden, die ihnen nach dem Sex oder einfach nur der Gesellschaft dieser jungen Burschen ein paar Mark zahlten, die es den Strichern ermöglichten, einen weiteren Tag zu überleben.

So wie Mackay seine beiden Protagonisten zur selben Stunde im Eldorado der Homosexuellen eintreffen lässt, so führt er sie zusammen. Was Günther in der Großstadt sucht, ahnt er noch nicht einmal. Neugierig und voller Erwartung stürzt er sich in das Leben der Metropole, während Hermann recht genaue Vorstellungen davon hat, was ihn nach Berlin treibt. Was eine ungewöhnliche Liebesgeschichte hätte werden sollen, entwickelt sich zu einem realistisch und einfühlsam geschriebenen Drama. Unter dem Pseudonym „Sagitta“ publizierte Mackay in der ersten Homosexuellenzeitschrift der Welt – „Der Eigene“ – und arbeitete an dem Projekt „Die Bücher der namenlosen Liebe“. Die beiden ersten Bände, 1906 publiziert, wurden von der Polizei verboten und vernichtet. „Der Puppenjunge“ erschien 1926. Der Titel ist übrigens ein umgangssprachliches und veraltetes Synonym für einen jungen Stricher und trägt den Untertitel „Die Geschichte einer namenlosen Liebe aus der Friedrichstraße“.

Das Buch liest sich kurzweilig und spannend. Die teilweise schwülstigen Passagen und Ausdrücke sind der Entstehungszeit geschuldet und stören nicht, sondern versetzen den Leser mühelos in die damalige Zeit. Das Hadern Hermanns und auch das von Günther sind sehr emotional, die Gefühlswelten der beiden könnten dabei unterschiedlicher nicht sein. Hermann erkennt anfangs, dass Liebe für ihn gleich Besitz ist, er muss Günther besitzen. Erst am Ende des Buches wird er auf wundervolle Weise darauf hingewiesen, dass seine Liebe „…flüchtig ist, lass sie leicht sein wie ein Frühlingstag; wie ein Sonnenleuchten; wie eine Stunde des Glückes es ist. Und frage nicht! Weil sie außerhalb aller Gesetze und Sitten der Menschen steht, ist sie freier und darum vielleicht auch schöner.“ Die dramatische Wendung im Verlauf der Geschichte zeigt uns wieder einmal auf, was unsere Vorgänger trotz der Gefahren und Gesetze auf sich genommen haben, um zu ihrer Liebe und zu ihrem wahren Ich zu stehen. Zahlreiche Männer wie Hermann und Günther haben sich getraut und Schritt für Schritt sind sie den Weg gegangen, der es uns heute ermöglicht zu sein, wie wir sind.