Raphael Gonçalves, bekannt als “Dom PC”, gewann am 8. April 2018 den Titel „Mr. Leather Brazil” gegen drei andere Kandidaten in der Eagle Bar, São Paulo. Hier im Interview mit Tyrone Rontganger redet er über die Spaltung der brasilianischen Ledercommunity, Fetisch-Shopping und die Liebe (zu Leder!).
BOX: Hi Raphael. Hier beginne ich wieder mit einem wahrscheinlich richtig blöden Stereotyp: Wenn ich an Brasilien denke, stelle ich mir geile Typen in winzigen Schwimmhosen vor, die am Strand Volleyball spielen oder durch die Straßen tanzen! Aber keiner davon in Fetisch? Wie ist dort die Fetischszene wirklich?
Raphael: (lacht) Ja, ich glaube, viele Menschen im Ausland haben diese Vorstellung von unserem Land! Brasilien ist ein tropisches Land mit einer wunderschönen Natur und lebensfrohen Menschen, die auch gerne feiern. Man darf aber nicht dabei vergessen, dass es auch ein sehr großes Land mit vielen verschiedenen Kulturen ist und daher kommt es immer darauf an, wo genau man sich im Land befindet. Ich lebe in São Paulo, mit 11 Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes. Es ist eine Metropole und daher sind die Bewohner eher ernst und fleißig. Wir haben hier auch die größte Ledercommunity des Landes. Sie ist zwar klein – eher nur eine ‚Gruppe‘ – aber sie wächst von Jahr zu Jahr und wir entwickeln uns dadurch immer weiter. Wir haben hier auch eine gute Anzahl von Fetischevents, wie zum Beispiel das „Lustprojekt“, einer der ältesten Partys der Stadt, oder das monatliche Lederdinner und die „Sir Society“-Party. Wir haben auch ein regelmäßiges Event namens „Leder auf der Straße“, wo wir alle in Leder vor der „Soda Pop“ schwulen Bar auf der Straße stehen und uns in der allgemeinen Gesellschaft zeigen. Wenn Leute vorbeilaufen, erklären wir ihnen, worum es sich handelt und laden sie dazu ein, uns etwas kennenzulernen. Wir bekommen dadurch viel positives Feedback, denn dann können fremde Leute selbst live sehen und erleben, wie und was wir sind und wir leben – freundlich, friedlich und demokratisch.
BOX: Ach, ein Schlagwort: Die Demokratie! Ihr habt ja die nächsten Tage Präsidentschaftswahlen in Brasilien. Welche Auswirkungen könnte der Sieger auf eure Ledercommunity haben?
Raphael: Wir erleben hier aktuell eine sehr turbulente Periode auf der politischen Bühne und ich glaube, es wird noch viel schlimmer kommen! Wir Brasilianer werden jetzt aufgerufen, bald einen neuen Präsidenten zu wählen, aber wir haben eigentlich nur die Wahl zwischen zwei Parteien, rechts oder links. Die aktuelle Linksregierung ist in den letzten 12 Jahren von einem Skandal gleich zum nächsten gehüpft und die Rechtsopposition erklärt sich daher zur „Lösung“. Dabei versucht sie selber so gut wie möglich, ihre eigenen Skandale zu vertuschen! Was mir aber Angst macht, ist wie der Präsidentschaftskandidat vom rechten Flügel Minderheiten behandelt. Er ist rassistisch, homophob und frauenfeindlich und führt trotz alledem in den letzten Umfragen. Seine teilweise gewalttätigen und aggressiven Anhänger fühlen sich natürlich dadurch verstärkt. Gewalt gegen Schwule – sogar die Mordrate – nimmt bei uns immer weiter zu. Ich mache mir schon Gedanken, dass unsere Demokratie dadurch bedroht werden könnte – das alles, was wir uns als Schwule in den letzten Jahren hart erkämpft haben, könnte uns bald verlorengehen. Aber genau deswegen ist jetzt die Zeit gekommen, dass wir in der schwulen Ledercommunity noch enger zusammenrücken. Wir müssen uns jetzt mehr als je zuvor gegenseitig unterstützen und füreinander da sein. Bis dieses Interview veröffentlicht wird, wird der neue Präsident schon feststehen und falls es doch wird, wie wir hier in der Community alle befürchten, bitte ich die internationale Ledercommunity, an uns zu denken und für Brasilien zu beten.
BOX: Du vertrittst hier ganz eindeutig eine politische Ansicht! Hast du da keine Angst, dass du vielleicht damit deine eigene Community spalten könntest?
Raphael: Ja, ich vertrete eine klare politische Ansicht, aber ich vermeide nichtsdestotrotz politische Auseinandersetzungen. Ich respektiere die Ansichten Anderer und darf daher im Gegenzug verlangen, dass sie auch meine respektieren. Ich habe meine politische Meinung nie versteckt oder geheim gehalten und ich glaube, die Mehrheit in unserer Community hier gibt mir dabei Recht. Wir erleben aktuell schwierige Zeiten, die uns alle betreffen, aber wir dürfen es nicht zulassen, dass wir uns innerhalb unserer Community gegenseitig bekämpfen – was leider schon zweimal bei uns heftig passiert ist. Wie auch immer wir denken, müssen wir trotzdem für Harmonie unter uns sorgen. Ob sich ein Mister-Leather überhaupt politisch äußern soll? Da denke ich, unter anderem, dass wir zum Teil von der Community gerade deswegen gewählt werden, denn wir vertreten unsere Mitglieder und ihre Ansichten! Ein Mister, der seine Community in allen Lagen unterstützen und sogar mit einem guten Beispiel führen will, muss auch strategisch und politisch denken.
BOX: Erzähl uns bitte, was dich zum Leder führte?
Raphael: Ich kann mich leider nicht genau erinnern, weil das Interesse an Leder eigentlich schon in meiner Kindheit anfing, längst bevor sich meine Sexualität entwickelt hatte. Aber erst nach meinem Abschluss als Arzt im Jahr 2004 war ich finanziell in der Lage, Leder überhaupt auszuprobieren. Als ich dann feststellte, dass ich in meiner Seele ein Ledermann war, fing dann für mich meine Welt neu an! Ich hatte genug Geld, mich mit Lederklamotten und Stiefeln auszustatten und fing richtig damit an, meinen Kleiderschrank zu „beledern“ – jetzt habe ich ca. 100 Lederartikel, von Jacken bis hin zu Jockstraps. 2005 bin ich dann mit anderen Lederkerlen in Kontakt gekommen und Schritt für Schritt wurde ich Teil unserer Ledercommunity. Ich habe auch schon damals viele Events besucht, die Geschichte und Evolution unserer tollen internationalen Community gelernt und fing an, mich selbst als Teil davon zu betrachten.
BOX: Als gutverdienender Arzt und Polizist kannst du dir bestimmt viel Leder leisten, aber wie geht es den Ärmeren in eurer Community?
Raphael: Tatsächlich ist das bei uns ein ganz großes Thema! Nicht nur wegen der Preise, sondern auch wegen der Möglichkeit, überhaupt Fetischkleidung zu finden. Obwohl es hier viele private Lederschneider gibt, die alles schön nach Maß nähen, haben wir in São Paulo nicht mal ein einziges Fetischgeschäft, wo man die Sachen sehen, anfassen, aussuchen und anprobieren kann. Natürlich kann man mittlerweile alles online bestellen, aber aufgrund der Entwertung unserer Währung sind uns viele Sachen aus dem Ausland einfach zu teuer. Das alles heißt natürlich, dass eigentlich nur Männer mit viel Geld überhaupt die Möglichkeit haben, sich Leder zu kaufen. Daher ist bei uns und unseren Meetings wirklich jeder willkommen, ob man sich Leder leisten kann oder nicht. Denn Community heißt: Sich kennenlernen, miteinander teilen, und auch miteinander Spaß haben, und für sich kostet das alles nichts. Zum Beispiel kann wirklich jeder bei unserem “Leder auf der Straße“-Event mitmachen, ob sie Leder anhaben oder nicht. Ich denke, wer in seinem Herzen Leder trägt, gehört einfach dazu – egal, was du in deinem Kleiderschrank hast!
BOX: Und was löste für dich die Anmeldung zur Misterwahl aus?
Raphael: Als ich mich dann nach 12 Jahren als Lederkerl für die Wahl entschied, habe ich viel Unterstützung von meinen Freunden bekommen. Ich kannte bis dahin auch viele Leute im Ausland, die mich auch dazu ermutigt haben, daran teilzunehmen. Sie haben alle erkannt, wie sehr ich mich für unsere Lederkultur interessiere und was sie mir auch persönlich bedeutet. Für mich sind nicht nur die persönlichen Freundschaften und internationalen Partnerschaften sehr wichtig, sondern auch die Sichtbarkeit unserer Community und deren Gleichberechtigung. Ich vertrete die brasilianische Ledercommunity international sehr gern und möchte der Welt zu zeigen, dass es uns gibt. Als Arzt kann ich mich außerdem für HIV-Prävention und für die richtige Sorgfalt bei BDSM-Praktiken einsetzen – ich habe zu diesen Themen öfters Vorträge gehalten oder sogar Radiointerviews gegeben. Als Polizist kämpfe ich gegen die Homophobie und für den Schutz der persönlichen Rechte, besonders für Schwule. Diese zwei Themen sind von besonderem Interesse für mich und mit dem Titel wusste ich, dass ich mehr Menschen erreichen könnte. Und seit meiner Wahl habe ich da echt eine Menge zu tun!
BOX: Was erzählst du im Radio über BDSM zum Beispiel?
Raphael: Schon als Junge interessierte ich mich für BDSM, längst vor meinen ersten sexuellen Erfahrungen. Wenn etwas um Schmerz oder Erniedrigung ging, erregte es gleich meine Aufmerksamkeit! Viele Jahre dachte ich, es lag etwas Perverses oder sogar Falsches an mir, bis ich dann endlich meine Sexualität entdeckte und herausfand, dass ich mit diesen Gefühlen nicht alleine war. Ich merkte, es gibt ganz viele Andere, die ähnliche Gedanken haben. 2005 kam ich dann in Kontakt mit anderen Typen, die BSDSM praktizierten und wollte natürlich mehr lernen. Daher gründete ich mit ihnen zusammen die Gruppe “BDSM-Camp Brasil“, ein dreitägiges Lederevent für BDSM. Ich bin Dom und mache CBT, Ballbusting, Ponyspiele, Spanking, Assplay, gezwungene Keuschheit, Pisse, Puppy-Play, Erniedrigung und Fesseln sehr gern. Es ist wichtig, dass Anfänger lernen, wie sie auf eine sichere, gesunde, verantwortungsbewusste und konsensuelle Art und Weise spielen sollen und das gebe ich in meinen Vorträgen und Interviews weiter. Nur dann kann man als Dom oder Sklave Unfälle vermeiden und BDSM richtig genießen.
BOX: Du redest sehr gern von der internationalen Ledercommunity: Mit welchen anderen Communitys steht ihr in Brasilien nah?
Raphael: Eigentlich mit keiner. Wegen unserer geographischen Lage – tausende Kilometer von Europa und den Vereinigten Staaten entfernt – sind wir von anderen Communitys etwas isoliert. Außerdem haben wir erst 2017 unseren allerersten Mr. Leather Brazil gewählt und bis dahin hatten wir überhaupt keinen Kontakt mit anderen internationalen Communitys. Ehrlich gesagt, obwohl wir hier schon seit ein paar Jahren regelmäßige Lederevents haben, denke ich, dass andere Communitys in der Welt kaum etwas überhaupt von unserer Existenz wussten. Mit dem Titel möchte ich uns daher mit unseren Lederbrüdern in der Welt etwas näher zusammenbringen. Deswegen gebe ich viel Geld für meine internationalen Reisen nach Europa und in die USA aus, um unsere Verbindungen mit anderen Communitys zu stärken. Ich investiere daher sehr gerne in die Zukunft unserer Community, trotz oder gerade wegen der großen Entfernungen zwischen uns. Das ist für mich eine wunderbare Erfahrung, denn ich lerne immer mehr ganz tolle Menschen kennen. Als ich in Berlin zur Folsom war, waren viele Leute von mir und meiner Schärpe überrascht, weil sie gar nichts von meinem Titel kannten. Viele wollten mit mir darüber reden.
BOX: Vielleicht aber auch wegen deiner sehr guten Figur …
Raphael: Tja, ich trainiere mindestens 4 Mal die Woche. Nicht nur, weil ich meinen Vorstellungen nach körperlich attraktiv sein will – denn, wenn ich in den Spiegel schaue, möchte ich das reflektierte Bild mögen – sondern auch vorwiegend wegen der Gesundheit. Ein Mr. Leather muss meines Erachtens nicht perfekt, muskulös, oder geil sein bzw. aussehen, sondern eher ein Mann, der sich für seine Community einsetzen will. Ein Fetischtitel erfordert Engagement, Empathie und Verständnis für Andere viel mehr als Muskeln oder Schönheit!
BOX: Wie steht dein Partner zu dem ganzen Mr.-Leather-Rummel?
Raphael: Mein Ex und ich haben uns vor zwei Jahren getrennt, genau deswegen, weil ich mich für die Mr. Leather Brazil-Wahl angemeldet habe! Wir hatten es vorher wirklich sehr lange und ganz ausführlich diskutiert – ich habe ihm sehr gut zugehört und glaubte, er würde mich dabei unterstützen. Und er verstand ganz deutlich, dass ich es wirklich versuchen wollte. Aber als es darauf ankam, erklärte er mir, er hatte keine Lust darauf, mich wegen der ganzen Verpflichtungen und Reisen mit so vielen anderen zu teilen. Er meinte, andere Typen würden mit der Zeit in unsere offene Beziehung eindringen können. In diesem Moment merkte ich, dass ich vor einer sehr schwierigen persönlichen Wahl stand: Entweder er oder ich! Ich habe mich für ‘mich’ entschieden! Ich wollte glücklich sein und war nicht länger bereit, klein beizugeben. Was hat man vom Leben, wenn man nicht zu seinen Prinzipien und Idealen steht? Ich habe zwar meine Liebe geopfert, aber dafür erlebe ich jetzt wirklich die beste Zeit meines Lebens. Es ist schade, aber ich bereue gar nichts!
BOX: Was hast du deiner Community in São Paulo von der Community in Deutschland erzählt?
Raphael: Ich war bisher schon zweimal auf Folsom Europe. Mein erstes Mal in 2015 war toll, aber dieses Jahr als Mister war einfach unglaublich und eine unvergessliche Erfahrung! In Berlin hat man da die nahezu einzigartige Gelegenheit, mit vielen anderen Titelträgern in Kontakt zu kommen und von ihren Communitys persönlich zu hören. Viele haben sich für unsere brasilianische Community interessiert, was ich natürlich hier sehr gern weitergegeben habe. Deutschland beeindruckt mich schon sehr wegen der Kameraderie in der Ledercommunity – ihr stellt dort keine nationalen Grenzen und heißt wirklich jeden in Leder willkommen! Ich habe dort in Berlin zeigen können, wie wir in Brasilien sind – freudevoll, energisch, liebevoll und divers! Manchmal denke ich, ich habe das alles nur geträumt, aber die vielen schönen Fotos beweisen mir, dass ich doch diese echt tolle Zeit in Deutschland selber erlebt habe
Fact File
Name: Raphael Gonçalves oder “Dom PC”
Alter: 38
Beruf: Polizeibeamter & Arzt, Doktorand
Hobbys: Leder, BDSM, Party, Motorradfahren, Lesen, Klavier, Fitnessstudio
Sternzeichen: Stier
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