In dem Maße, wie die Beliebtheits- und Zustimmungswerte des türkischen Präsidenten Recep Erdoğan und seiner regierenden konservativ-religiösen AKP fallen desto größer wird der Druck auf Künstlerinnen, Kulturschaffende, Frauen und LGBTQ-Personen. Die Regierung greift immer stärker in das kulturelle, gesellschaftliche und private Leben ein – besonders dort, wo es um Geschlecht, Sexualität und Vielfalt geht. Der Kulturkampf folgt weniger moralischen als politischen Motiven: Er soll Machtverlust über symbolische Politik kompensieren und konservative Milieus festigen.

Sichtbares Zeichen dieser Entwicklung sind die zunehmenden Fälle, in denen Kulturschaffende kriminalisiert oder eingeschüchtert werden. In Izmir wurden eine Frau mit Kopftuch und ein Tänzer festgenommen, weil ihr Tanzvideo „religiöse Werte beleidigt“ habe. Popsänger Mabel Matiz wird wegen „Obszönität“ angeklagt – sein Song enthalte homoerotische Anspielungen. Gegen die Frauenband Manifest laufen Ermittlungen wegen „unanständiger Akte“. Das Satiremagazin LeMan stellte sein Erscheinen ein, nachdem Karikaturisten wegen „Beleidigung des Islams“ verhaftet wurden. Schon vor zwei Jahren wurde in den türkischen Schulen ein Lehrplan verpflichtend, der unter dem Motto „Die Familie in der türkischen Gesellschaft“ „traditionelle Familienwerte“ lehren und „LGBT-Werte“ und „Homosexualität“ bekämpfen soll. Geschlecht und Lebensstil dienen der Regierung als Bühne, um Autorität zu demonstrieren und gesellschaftliche Gräben zu vertiefen.
Diese Dynamik erhält nun eine weitere gesetzliche Dimension. Der Entwurf eines sogenannten 11. Justizpakets, über den türkische Medien wie Diken berichten, sieht neue Straftatbestände speziell gegen LGBTQ-Sichtbarkeit vor. Vorgesehen ist eine Erweiterung von Artikel 225 des Strafgesetzbuchs, der bislang „unanständige Handlungen“ sanktioniert. Künftig könnte demnach jede Person bestraft werden, die „entgegen der allgemeinen Moral“ Verhalten zeige oder öffentlich für solches Verhalten werbe. Gleichgeschlechtliche Verlobungs- oder Hochzeitszeremonien sollen mit bis zu vier Jahren Haft bedroht werden. Darüber hinaus will der Entwurf geschlechtsangleichende Eingriffe erschweren: Das Mindestalter soll von 18 auf 25 Jahre steigen, zusätzliche Gutachten und behördliche Genehmigungen werden vorgeschrieben. Ärztinnen und Ärzte, die ohne diese Auflagen operieren, sollen mit mehrjährigen Haftstrafen und hohen Geldbußen rechnen müssen. In der Begründung heißt es, die Regierung wolle „die Familie schützen und moralische Werte bewahren“.
Für Kritiker ist dies ein klarer Versuch, LGBTQ-Existenz zu kriminalisieren und medizinische Selbstbestimmung faktisch zu unterbinden. Die pro-kurdische DEM-Partei wie auch Politiker der sozialdemokratischen CHP haben angekündigt, sich einer Verabschiedung zu widersetzen.

All diese Schritte vollziehen sich vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise: Die Inflation bleibt hoch, die Lira schwach, viele junge Menschen wandern aus. Eine Reuters-Analyse aus dem Sommer 2025 verweist auf eine Mehrheit der Bevölkerung, die ein Ende der Erdoğan-Ära wünscht. Nach einer Reihe von Umfragen, unter anderem von Metropoll und KONDA, verliert die Regierungspartei deutlich an Rückhalt. Nach allen Umfragen würden derzeit CHP-Politiker Erdoğan in hypothetischen Präsidentschaftsstichwahlen schlagen. In dieser Lage sucht die Regierung angesichts des rapiden Stimmungsverfalls für Erdoğan und die AKP nach Themen, die Emotionen binden und das eigene Lager mobilisieren und „Feindbilder“ etablieren zu können.

Der Justizapparat spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Inhaftierung oppositioneller Politiker und Bürgermeister, die Verfahren gegen Künstlerinnen und Aktivisten, die Repression gegen die Gezi-Bewegung – all das dient der Disziplinierung und Abschreckung. Kulturpolitisch entsteht eine doppelte Strategie: Repression gegen alles, was als „unislamisch“ oder „westlich“ gilt, und zugleich die Förderung regierungstreuer, nationalistisch-konservativer Produktionen. Serien, Filme und Konzerte, die das Leitbild einer frommen, hetero-dominierten Gesellschaft bedienen, erhalten Unterstützung, doch kommerziell wie vom Zuspruch bleiben die meisten dieser Produktionen erfolglos.
Gleichzeitig verschwinden schwule oder lesbische Charaktere aus Fernsehserien, werden ausländische Filme und Festivals zensiert oder abgesagt. Internationale Künstlerinnen meiden das Land aus Angst. Die staatliche Linie signalisiert: Sichtbarkeit außerhalb der religiös-konservativen Norm ist nicht länger nur unerwünscht, sie wird potenziell mit Strafen verfolgt.
Die Strategie ist riskant. Zwar kann sie die religiös-konservative Basis mobilisieren, doch sie entfremdet urbane Mittelschichten, Frauen und junge Wähler immer weiter – genau jene Gruppen, die Erdoğan 2019 und 2024 entscheidende Wahlniederlagen in Istanbul, Ankara und Izmir bescherten. In diesen Milieus stoßen die zunehmenden kulturpolitischen Verbote und moralische Zensur auf Ablehnung. Sie empfinden die Eingriffe in Kultur und Privatleben als Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke.
Erdoğans Autorität bei den Wählern schwindet aber auch dort, wo nicht-städtische Milieus dominieren: In der nur von der Türkei anerkannten Republik Nordzypern gewann aktuell der Oppositionskandidat der CHP überwältigend die Präsidentenwahl.
Deutschland und die EU schweigen

Nirgends entlarvt sich die angeblich von demokratischen Werten geleitete deutsche und europäische Außenpolitik so deutlich, wie im Verhältnis zur Türkei:
Bei seinem kürzlichen Ankara-Besuch betonte CDU-Außenpolitiker Johann Wadephul, die Türkei sei „strategischer Partner und Freund“, mit dem Deutschland bei Sicherheit, Migration, Energie und Nahostpolitik enger zusammenarbeiten wolle. Auch die EU-Kommission sprach jüngst von der „Notwendigkeit eines stabilen Dialogs“, selbst wenn sie die zunehmende Unterdrückung der Opposition und die Aushöhlung der Gewaltenteilung „mit Sorge“ beobachte.
Zugleich bleibt eine Kritik der EU-Staaten an den Menschenrechtsverletzungen, der Inhaftierung von Journalisten, Oppositionspolitikern, so dem Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu, oder neue Gesetze gegen LGBTQ-Personen aus. Beobachter sprechen von einem „kollektiven Schweigen“ Europas – Ausdruck einer Politik, die die Machtinteressen der EU über die „europäischen Werte“ stellt.
Quellen / Links
• Al-Monitor (Amberin Zaman): „Turkey’s women, LGBTQ artists top targets of Erdogan’s drive for cultural hegemony“, 1. Oktober 2025. https://www.al-monitor.com/originals/2025/10/turkeys-women-lgbtq-artists-top-targets-erdogans-drive-cultural-hegemony
• Diken: „11’nci yargı paketinden LGBTİ+ bireylere hapis cezası çıktı“, 15. Oktober 2025. https://www.diken.com.tr/11nci-yargi-paketinden-lgbti-bireylere-hapis-cezasi-cikti/
• Reuters: „Turkish opposition gains ground in polls as Erdogan under pressure“, Juli 2025. https://www.reuters.com/world/middle-east/turkish-opposition-gains-ground-polls-erdogan-under-pressure-2025-07-10/
• Metropoll / KONDA Umfragen, 2025, zitiert in internationalen Medien.
Girlgroup MANIFEST
https://www.youtube.com/m6nifestgirls
LGBT+ Organisation KAOS
https://kaosgl1.org/
Bilderlinks: KAOS, listag.org, wikipedia, youtube, Tagesschau.de