In unserer Kolumne schreibt Thorsten, Mr. Leather Europe 2015, über Erfahrungen und Begebenheiten der europäischen Leder- und Fetisch-Community. Ende Mai fand in Chicago zum 39. Mal die Wahl zum International Mr. Leather statt. Eine gute Gelegenheit für Thorsten, die Trends und Entwicklungen der US-Lederszene in Augenschein zu nehmen und Vergleiche mit Europa zu ziehen:
In den USA fand in den 1970er Jahren die Entwicklung der Leder-Community ihren Höhepunkt. Die schwule Gemeinschaft verzeichnete insgesamt einen explosionsartigen Zuwachs an Mitgliedern, politischem Selbstbewusstsein und wirtschaftlicher Macht. Neuartige Strukturen der Lederszene entwickelten sich, die sie mit frischem Leben erfüllte. Hierüber war die Rede des 73-jährigen Jon Brittain, Mr. Classic Leather 2017 und ältester Kandidat in der Geschichte des International Mr. Leather (IML) Wettbewerbs, für mich eine große Inspiration: „Ich bin 73 Jahre alt und seit 30 Jahren HIV positiv. Meine Generation und die Generation nach mir hat durch AIDS viele wunderbare Menschen verloren. Ich rufe euch dazu auf, erfahrene Ledermänner zu finden und sie zu fragen, wie es damals wirklich war. Wir dürfen nicht das, was wir haben, als selbstverständlich ansehen. Wir können nicht zulassen, dass unsere Geschichte in Vergessenheit gerät!“
Ein immenser Teil einer ganzen Generation von Ledermännern ist durch AIDS ausgelöscht worden und mit ihnen ihre persönliche Geschichte und Erfahrung. Die durchgreifende Wirkung von AIDS machte sich auf vielfache, ungeahnte Weise bemerkbar und verschlang das Leben zahlreicher Menschen genauso wie die Leder- und SM-Szene. Umso erfreulicher, einen Mann wie Jon Brittain auf der Bühne in Chicago unter den Top 20 zu sehen, der sich von anderen Kandidaten durch Lebenslust, Witz und Charme abhebt und eine Botschaft an uns richtet, die zum Nachdenken anregt. Wie sich im anschließenden Gespräch mit Durk Dehner, Mitbegründer und Vorsitzender der Tom of Finland Foundation sowie erster Runner-Up bei IML 1979, zeigte, werde ich auf jeden Fall Gesprächsstoff genug haben, wenn ich nächstes Mal einem Ledermann aus dieser Generation begegne. Derartige Gespräche zu suchen, kann ich nur jedem von uns empfehlen.
Dass die Zeiten sich ändern und ein Wandel innerhalb unserer Lederszene spürbar ist, zeigte mein Besuch des Ledermarkts in Chicago. Die Fetisch-Händler warteten mit den neuesten Trends auf und zeigten während IML an ihren Ständen, was angesagt ist und welches Must-have auf dem nächsten Fetisch-Event offensichtlich nicht fehlen darf. Angeboten werden vor allem Harnesse in allen denkbaren Varianten und Farben. Den Trend zu Neonfarben können wir ja schon seit geraumer Zeit auch bei uns in Europa beobachten. Neu ist Leder mit knallbunten Metalliceffekten, in Pastellfarben oder gar rosarote Lederharnesse mit aufgesetzten Stoffriemen, die mit Hundeknochen oder Blümchen und Flugzeugen bedruckt sind. Die Entwicklung geht weg von schwarzen Leder- oder Gummimasken hin zu Hundemasken in allen erdenklichen Varianten und Farben sowie zu unterschiedlichsten Tiermasken.
Immer wieder umstritten sind derartige Trends und Partykleidung. Vor allem der Harness ist teilweise heißbegehrt, teilweise stark kritisiert. Für viele ist das Kaufen und Tragen eines Lederharness der Einstieg in die Lederszene. Ein Harness unterstreicht gekonnt einen gutgeformten Oberkörper, die Träger fühlen sich sexy, er eignet sich für jede Fetischparty. Dieses auf den ersten Blick recht harmlose Accessoire macht neugierig auf mehr und für viele von uns entwickelte sich daraus ein umfangreicher Lederfetisch. In der Öffentlichkeit wurde der Harness durch Pop-Ikone Madonna Anfang der 1990er Jahre in ihrem Video „Justify my love“ sowie bei ihren Konzertauftritten bekannt, war verrucht und kontrovers. Heutzutage haben bekannte Modelabels das Fetisch-Accessoire für sich und ihre Kollektionen neu entdeckt und spätestens Lady Gaga machte ihn salonfähig. Und genau darin liegt offensichtlich auch die Kritik innerhalb der Leder-Community: Der Harness ist Mainstream geworden, für die breite Party-Menge und nicht mehr unbedingt Türöffner zur Lederszene. Vielleicht aber ist diese Allgegenwärtigkeit von Fetischkleidung nicht nur als vorübergehender Trend, sondern als Zeichen der Veränderung zu werten, denn wir drücken uns immer häufiger durch Mode aus, die eng mit Sexualität verflochten ist, und verachten Anpassung.
Allerdings gibt es eine große Grauzone zwischen den Party/Mode-Harness-Trägern und den Entdeckung-Harness-Trägern, die keinesfalls alle auf Ablehnung stoßen dürfen. Wer wirkliches Interesse an unserer Community signalisiert, soll von jedem von uns willkommen geheißen werden und die Chance bekommen, mehr über Lederfetischismus, BDSM und unsere Kultur an sich zu erfahren. Dadurch kann er seinen eigenen Weg zu der für ihn richtigen Zeit erkunden und sich hoffentlich zu einem der Ledermänner der uns nachfolgenden Generation entwickeln. Sind wir abweisend und sehen auf die Harness-Träger herab, schrumpft die Ledergemeinschaft wieder zusammen, wie es die uns vorangegangene Generation auf tragische Weise erfahren musste…