September 2017: Wegbereiter

In unserer Kolumne schreibt Thorsten, Mr. Leather Europe 2015, über Erfahrungen und Begebenheiten der europäischen Leder- und Fetisch-Community. In seinem Wohnort Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, lebten im ausgehenden 19. Jahrhundert ein berüchtigter Schriftsteller sowie ein Pionier in Sachen Fetischismus und SM – zwei der Wegbereiter für unsere Community:

Ein Blick ins Grazer Geschichtsbuch zeigt, dass die Stadt, in der ich lebe, ein Zentrum des Masochismus ist – zumindest rückblickend in die Vergangenheit. Zwei Personen, die in direktem Zusammenhang mit dieser Wortschöpfung stehen und bedeutende Aufklärungsarbeit leisteten, lebten ebenfalls in der Landeshauptstadt Graz: Ritter Leopold von Sacher-Masoch und Richard Freiherr von Krafft-Ebing. Sacher-Masoch wohnte von 1854 bis 1872 in Graz, wo er sich vom Dozent für österreichische Geschichte an der Universität zum Verfasser von erotischen Erzählungen entwickelte, in denen er sein eigenes, triebhaftes Schmerz- und Unterwerfungsverlangen künstlerisch festhielt. Seine 1870 erschienene Novelle ‚Venus im Pelz‘ handelt von fetischistischen Neigungen und ist stark von seinem Leben inspiriert. Im Roman bittet der Sklave seine Herrin Wanda darum, einen Pelz zu tragen, wenn sie ihn quält. Auszug: „Ich fange an, Vergnügen daran zu finden, für heute ist es genug, aber mich ergreift eine teuflische Neugier, zu sehen, wie weit deine Kraft reicht, eine grausame Lust, dich unter meiner Peitsche beben, sich krümmen zu sehen und endlich dein Stöhnen, dein Jammern zu hören und so fort, bis du um Gnade bittest und ich ohne Erbarmen fortpeitsche, bis dir die Sinne schwinden. Du hast gefährliche Elemente in meiner Natur geweckt. Nun aber steh‘ auf.“

Heutzutage wird Sacher-Masoch als ein Pionier der neuen erotischen Literatur gesehen, denn er trat mit seinen Texten gegen Vorurteile auf und war einer der ersten, der über ein Tabuthema so offen geschrieben und damit wohl einen Nerv seiner Zeit getroffen hatte. In Graz wird zwar im Café Erzherzog Johann die Sacher-Masoch-Torte verkauft (nicht zu verwechseln mit der Wiener Sacher-Torte) und das dazugehörige Hotel bietet seinen Gästen mitunter die Möglichkeit, im Wanda Sacher Masoch-Zimmer zu übernachten. Leopold von Sacher-Masoch ist aber längst in Vergessenheit geraten, obwohl sein Name in Verbindung mit seiner sexuellen Veranlagung heutzutage jedem bekannt und ein Bestandteil des Begriffs BDSM ist. Die Bezeichnung Masochismus ist 1890 aus Leopold von Sacher-Masochs Nachnamen abgeleitet und geprägt worden durch Richard Freiherr von Krafft-Ebing. Dieser Psychiater und Begründer der Sexualwissenschaft lebte ab 1873 bis zu seinem Tod 1902 in Graz. „Masochismus ist der Wunsch, einer Person des anderen Geschlechts vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemütigt und selbst misshandelt zu werden“, so Krafft-Ebing. Der unfreiwillige Namenspatron schätzte diese Ehre nicht, ganz im Gegenteil. Der Schriftsteller fühlte sich auf seine sexuellen Vorlieben reduziert, geriet in Verruf und litt zeitlebens unter diesem Stigma. Krafft-Ebing traf der Vorwurf, den Ruf eines bedeutenden Literaten unnötig zerstört zu haben.

In der Psychiatriegeschichte ist Krafft-Ebing besonders für sein 1886 erstmals erschienenes Lehrbuch ‚Psychopathia sexualis‘ bekannt, einem frühen Bestseller der Medizin und wichtigem Werk der modernen Sexualwissenschaft. Damit leistete er Pionierarbeit, behandelte als Erster sexuelle Vorlieben wie Fetischismus, Masochismus, Sadismus oder Nymphomanie und versuchte, diese nach ihren Ursachen zu erklären. Bis heute sind seine Erkenntnisse bestimmend für unser Verständnis sowie für die wissenschaftlichen Fachausdrücke von sexuellen Perversionen geblieben. Des Öfteren verwendete Krafft-Ebing den Begriff pervers, der damals nicht abschätzig besetzt war, in seinen gerichtsmedizinischen Beiträgen. Er unterschied zwischen Perversion als Krankheit und Perversität als Laster und musste jedoch zugeben, dass selbst „die greulichsten geschlechtlichen Verirrungen mit geistiger Gesundheit verträglich seien“. Beobachtungen wie die sexuelle Vorliebe eines Patienten zu Herrenstiefeln brachten Krafft-Ebing dazu, verschiedene sexuelle Formen der Objektliebe als Fetischismus zu definieren. 1890 entwickelte er erstmals die Konzepte von Sadismus und Masochismus. Bevor er letztere Bezeichnung aufgriff, verwendete er in seinen Vorlesungen das Wort Schmerzgeilheit.

Homosexuelle Männer wurden damals als erblich belastete Perverse dargestellt, Fachbegriff war konträre Sexualempfindung. Krafft-Ebing interessierte sich sehr für Homosexuelle und ahnte, dass diese Neigung viel weiter verbreitet war als angenommen. Vermehrt suchten Patienten mit homosexuellen Neigungen oder abnormen Vorlieben seine Grazer Praxis auf. Viele von ihnen voller Leidensdruck, Selbstzweifeln, physischen Leiden und Vorwürfen. Aber nicht alle sahen ihre Neigung als verabscheuungswürdiges Laster oder tragische Krankheit, manche seiner Patienten waren voller Selbstbewusstsein. Sein Buch ‚Psychopathia sexualis‘ wurde von vielen Homosexuellen gelesen, die darin Aufklärung und Trost suchten und fanden, zahlreiche Briefe von Betroffenen überschwemmten ihn.

Krafft-Ebing wandelte sich zu einem Fürsprecher der Homosexuellen, der sich voller Mitgefühl für deren Straffreiheit einsetzte und die Abschaffung des § 175 des deutschen bzw. § 129 des österreichischen Strafrechts forderte. Magnus Hirschfeld, Mitbegründer der ersten Homosexuellen-Bewegung Deutschlands, nannte ihn den „ersten Rufer im Streite um die Befreiung von sexuellen Vorurteilen“ und schrieb über ihn: „Der erste, der auf dem kriminal- und sexualpsychologischen Gebiet bahnbrechend gewesen ist, war Richard von Krafft-Ebing. Seine Psychopathia sexualis hat unendlich viel Gutes gestiftet und vielen das Vertrauen zu sich selbst und ein ruhiges Gewissen wiedergegeben.“

Menschen wie Sacher-Masoch und Krafft-Ebing haben entgegen vorherrschender gesellschaftlicher Zwänge gehandelt und waren Wegbereiter für uns. Wir alle sollten mehr nach ihrem Vorbild mit gutem Beispiel vorangehen, zu uns selbst stehen und in Sachen Fetisch das ausleben, was uns aus- und anmacht. Außerdem sollten wir andere ebenfalls dazu motivieren und sie auf diesem wunderbaren Weg namens Lebenserfahrung ein Stück weit begleiten. Sex im Allgemeinen und sexuelle Vorlieben im Besonderen sind mächtige Kräfte, die von vielen politischen Systemen kontrolliert werden wollen. Das dürfen wir mit Rückblick auf die nationalsozialistische Zeit des 20. Jahrhunderts und auch vorausschauend auf unsere bevorstehenden politischen Wahlen weder unterschätzen noch zulassen…