November 2017: Hanky-Codes vs. Dating-Apps

In unserer Kolumne schreibt Thorsten, Mr. Leather Europe 2015, über Erfahrungen und Begebenheiten der europäischen Leder- und Fetisch-Community. Nutzten die Schwulen früher Hanky-Codes zur gegenseitigen Erkennung, gibt es heute zahlreiche Dating-Apps, um einen Partner für diverse Bedürfnisse zu finden. Doch nirgendwo lernt man sich besser kennen als im realen Leben:

Bei unserem letzten Fetish in the City in Graz gaben die meisten Besucher zu, dass sie sich bei Hanky-Codes nicht auskennen. Einige begründeten ihr Nichtwissen damit, dass Online Dating-Apps ohnehin darüber Auskunft geben, auf was das Gegenüber stehe. In den 1970ern, also noch lange vor Gayromeo, Recon, Grindr und Co., war der Hanky (kurz für Handkerchief/deutsch: Taschentuch) Code eine beliebte Art für schwule Männer, um anderen zu zeigen, welche Fetische und welche Position sie sexuell bevorzugen. Die farbigen Tücher in der Gesäßtasche verbreiteten sich in Europa und den USA vor allem in der Schwulen- und BDSM-Szene rasend schnell. Auch Tom of Finland zeichnete seine Figuren mit Hankys und dieser Sex-Indikator wurde immer beliebter. Seither hat sich unsere Community jedoch verändert, Homosexuelle sind weitaus selbstbewusster geworden und brauchen sich nicht mehr zu verstecken. Zudem sind die Möglichkeiten der Partnersuche bedeutend gestiegen.
Ich selbst habe den Hanky-Code bei meinen Besuchen in den USA wiederentdeckt, denn dort werden die signalisierenden Tücher noch deutlich häufiger getragen als bei uns in Europa. Vielleicht mag heute den Hanky-Codes ein Hauch Vintage anhaften, ich trage sie trotzdem gerne als starkes Symbol jener Zeit, in der für unsere Lederszene die Weichen gestellt wurden. Weiß mit bunten Punkten, oder lila-weiß kariert, aus Satin oder Moskitonetz, Magenta oder doch Fuchsia? Die Vielfalt der Codierungen wurden im Laufe der Zeit immer mehr und die Verwechslungsgefahr der Farben häufiger, was diese Art des einander Erkennens fast ad absurdum getrieben hat. Damit sei entschuldigt, dass sich der eine oder andere mit Hankys nicht mehr auskennt. Wahrscheinlicher ist in der Tat, dass das Aufkommen der einschlägigen Online-Kontaktportale die Hanky-Codes überflüssig und vielfach verdrängt hat.

In unserer heutigen digitalen Welt nutzt man Apps, klickt seine sexuellen Vorlieben an und schreibt detailliert auf, was gesucht wird. In Windeseile können die passend scheinenden Partner online gefiltert werden, je nach App sogar angezeigt nach Entfernung. Das Aussehen wird auf völlig überzogene Weise ebenfalls als Filter genutzt. Gar mancher von uns hat nicht nur eine dieser Apps, sondern mehrere auf dem Smartphone installiert und wischt sich je nach Bedarf durch die schwellenlose, digitale Männerwelt, filtert nach schnellem Abenteuer, speziellen Vorlieben oder die Liebe fürs Leben und klickt sich durch die Fülle von Angeboten. Ist ja auch viel einfacher als jedem interessanten Mann erstmal auf die Gesäßtasche zu starren und versuchen sich daran zu erinnern, was die Farbe auf genau der Seite getragen bedeutet. Der Reiz des Entdeckens geht allerdings schnell verloren, wenn online schon alle sexuellen Vorlieben öffentlich zur Schau gestellt werden.

Nochmals zurück zur Fetish in the City Party, zu der ich über Recon viele der Grazer und Wiener App-User eingeladen habe. Die Rückmeldungen waren recht unterschiedlich. Der eine scheute sich, weil er niemanden kannte. Der andere wollte nicht, weil er skeptisch war und dachte „das ist in Wien besser“. Und viele haben gar nicht geantwortet, geschweige denn den Schritt aus ihrer Wisch-Komfortzone in die reale Welt gewagt. Die regionale Fetisch-Community, die bei uns offensichtlich doch existiert und die man beispielsweise sehr wohl bei Folsom in Berlin antrifft, versteckt sich zu einem Großteil hinter digitalen Endgeräten und datet lieber online, statt den persönlichen Kontakt zu suchen und sich mit Gleichgesinnten zu unterhalten. Ich will die Online-Kontaktportale hier auf keinen Fall schlechtmachen, im Gegenteil. Obwohl ich statistisch gesehen kein Digital Native bin, habe ich meine ersten Fetischdates damals über worldleathermen.com (heute Recon) vereinbart und den Mann fürs Leben habe ich ebenfalls vor gut 12 Jahren online gefunden.

Das World Wide Web ist keine Modeerscheinung, sondern zu einem Teil unserer Welt geworden. Wir müssen mit dem Netz umgehen und jeder von uns hat in Dating-Apps und/oder sozialen Netzwerken sein Personal Brand, eine Art persönliches Markenzeichen, geschaffen. Diese Identität ist nicht nur das Bild, welches wir vor uns selber haben, sondern, wie wir von anderen wahrgenommen werden. Vor zwei Jahren bin ich von meinen Mister-Kollegen mehr oder weniger dazu animiert worden, ein Twitter-Account anzulegen. Kürzlich habe ich dort den Tweet gelesen: „Sofern man keine berühmte Persönlichkeit ist, gleicht Twitter einem Selbstgespräch in einem mit Menschen überfüllten Raum“, wie passend!

In den vergangenen Tagen und Wochen haben sich Fälle von Mobbing, Rassismus und verletzende Wortgefechte in sozialen Netzwerken wie Facebook und Co. gehäuft. Der große Nachteil der digitalen Welt, denn überstürzte Meinungen sind schnell geschrieben, Aufmerksamkeit erregt und verletzt. Sticheleien, unschöne Anfeindungen und Hiebe unter die Gürtellinie mögen trivial und harmlos erscheinen, unnötiges Drama reißt jedoch tiefe Gräben in unsere Community. Statt einem Zusammenwachsen ist vermehrt ein Auseinanderdriften zu beobachten. Viele Gegner, seien es rechtsgerichtete politische Parteien oder intolerante Mitmenschen, sehen dies mit Genugtuung. Wir dürfen nicht selbst zu unseren eigenen Feinden werden, uns gegenseitig anprangern und zerstören. Darauf läuft es aber leider derzeit hinaus, sei es gesteuert oder unbewusst. Manch einer hat es perfektioniert, mit einem Personal Brand fernab von Authentizität, online seine komplexbeladenen Giftpfeile abzuschießen. Oft nur, um Postings kurze Zeit später schon wieder zu entschärfen oder gar zu löschen. Viel besser ist es doch, Ungereimtheiten unter vier Augen zu besprechen statt die breite Öffentlichkeit am Kampf ums Ego teilhaben zu lassen.

Ironisch, aber wahr: In unserem Zeitalter der elektronischen Kommunikation ist die persönliche Interaktion wichtiger denn je. Also, öfter mal wieder ausloggen und rausgehen. Vergesst dabei aber nicht das farbige Tuch in eurer Hosentasche. (tb)